SALLY PARKER – ANFAHRT
Da stand ich nun mit meinem kleinen Rollkoffer, wie immer, wenn ich eine Reise unternahm, was nicht häufig vorkam – das letzte Mal war ich vor sechs Jahren für ein verlängertes Wochenende in Brighton gewesen –, war ich zu früh dran. Ich fühlte mich verletzlich und unsicher, was daher rühren mochte, dass ich nur wenige Stunden geschlafen hatte, zu groß war die Aufregung gewesen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? „Man kann nichts erzwingen“ schoss es mir durch den Kopf, wie konnte ich nur für eine Sekunde daran glauben, eine Reise würde meiner Kreativität auf die Sprünge helfen und mir den Weg zu kurzweiligen Dialogen und innovativen Plots ebnen? Ich war eben keine Schriftstellerin, durch die ein höheres Wesen sprach, ich war eine kleine, unbedeutende Bibliothekarin, ein Bücherwurm, mehr nicht. Und doch war da der Stachel, der auch nach Jahrzehnten noch immer piekte, ein paar kleine Geschichten, nur für mich selbst, hatte ich immerhin schon geschrieben.
Orientierungslos marschierte ich mit kleinen, raschen Schritten durch die Abflughalle, auf der Suche nach meiner Fluglinie und dem Schalter, an dem ich meinen Koffer aufgeben konnte. Viel Gepäck hatte ich nicht dabei, schließlich würde ich die sechs Tage nur in einem Zug sitzend verbringen, allzu viel Wechselkleidung war also nicht nötig. Bücher hatte ich bewusst nicht eingepackt, auf keinen Fall wollte ich mich von meinem Projekt abbringen lassen, fremde Geschichten würden nur den Raum für meine eigenen Ideen einnehmen und ich würde enttäuscht und frustriert nach Hause zurückkehren. Wenigstens interessante Charakterstudien wollte ich machen, wenn schon nicht der konkrete Plan für die Handlung heranreifen würde.
In Gedanken war ich die ganze Halle abgeschritten, ohne wirklich auf die Fluglinien zu achten. Schließlich fragte ich einen Mann von der Security, der mir den Weg zeigte. Die Schlange vor dem Schalter war noch nicht lang, nicht viele Passagiere waren drei Stunden vor dem Abflug schon am Flughafen. Fahrig kramte ich in meiner zerbeulten Umhängetasche aus braunem Kalbsleder – Pass, Buchungsbestätigung, Geld, Ticket für die Transsibirische Eisenbahn – und obwohl ich mich noch zu Hause mindestens 3-mal davon überzeugt hatte, dass ich alles in die Tasche gesteckt hatte, wurde ich kurz nervös. In solchen Situationen fühlte ich mich, trotz meiner 45 Jahre, unselbständig und verloren und ich merkte, wie Ärger über mich selbst in mir aufstieg. Wenigstens hatte der Koffer kein Übergewicht, immer wieder hatte ich ihn auf meine rosa-plüschige Personenwaage in meinem Badezimmer gestellt. Ohne Gepäck und mit der Bordkarte in der Hand kam ich mir schon verwegener vor und ich beschloss, vor der Sicherheitskontrolle noch einen Tee zu trinken und dazu meine selbstgebackenen Haferkekse zu knabbern. Davor hatte ich auch Angst, vor der Verpflegung in der Eisenbahn, waren die Russen nicht für ihre fettige Küche bekannt? Womöglich musste ich mich sechs Tage lang nur von Keksen und Tee ernähren, obwohl der allzu große Konsum an Schwarztee weder meiner Verdauung noch meinem Schlaf förderlich sein würde.
Erstaunlicherweise verlief der Flug reibungslos, die meiste Zeit döste ich in einem Halbschlaf vor mich hin, was sicherlich meinem Schlafmangel in der vergangenen Nacht geschuldet war. In der großen Ankunftshalle am Moskauer Flughafen musste ich mich erst einmal orientieren, ich hatte zwar in der Schule zwei Jahre Russisch als Freifach besucht, jedoch konnte ich nicht mehr viel mehr als die Buchstaben zu entziffern und zu einem Wort zu formen. Mit meinem Rollkoffer, der Gott sei Dank als erster auf dem Laufband erschienen war, ging ich Richtung Taxistand. Auf gar keinen Fall wollte ich das Experiment wagen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Jaroslawer Bahnhof zu fahren, zu groß war die Angst, dass ich den Zug durch ein Missgeschick oder eine Verspätung versäumen würde.
Ich hatte nicht umsonst gespart, um mir diese Reise leisten zu können, da wollte ich nicht gleich am Anfang kleinlich und geizig sein. Trotz des Vorsatzes, mir etwas zu gönnen und großzügig zu sein, ließ mich die ganze Zeit über das Gefühl nicht los, dass der Fahrer die Gelegenheit, eine Ortsunkundige zu chauffieren, nützte und die Fahrt unnötigerweise in die Länge zog. Etwas verärgert, mich nicht ausdrücken zu können, stieg ich am Bahnhof aus, betrat die Bahnhofshalle und schaute mich nach einer Wechselstube um, an der ich meine Pfund in Rubel umtauschen konnte. 700 Pfund hatte ich für die Zugfahrt veranschlagt, das musste für Bettwäsche und Verpflegung reichen. Für alle Fälle hatte ich noch Nussmischungen, Müsliriegel und Cracker in meiner Tasche. Mit meinen Rubeln, die ich in einer zweiten Geldbörse verstaute, versuchte ich mich auf der riesigen Anzeigetafel zu orientieren, nach zehn Minuten gab ich es auf, die Zugverbindungen zu entziffern und fragte einen jungen Mann auf Englisch. In einem fließenden Englisch mit starkem russischem Akzent wies er mir den Bahnsteig an und erleichtert, die erste Etappe meiner Abenteuerreise gemeistert zu haben, stieg ich in den Zug ein.
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