ANTONI NOWAK - PROLOG:
»Kurwa!«, expektorierte Antoni Nowak und würgte die grobperlige grüne Grütze hervor, die sich in den frühen Morgenstunden in seinem Hals angesammelt hatte. Mit einem dumpfen Krachen rastete das verrostete Schiebefenster der alten Klappermühle ein, als er das Zugfenster seines Schlafgemachs öffnete, und eine ungemütliche Kälte bahnte sich ihren Weg in das Abteil am vordersten Ende des Zuges. Zu kurz war die Nacht, die der Morgen hinter sich gelassen hatte, zu tief die Flasche, auf deren Boden Antoni vergeblich Antworten gesucht hatte. Er beförderte den schleimigen Batzen in seinem Mund auf die Gleise und holte tief Luft. Der Tag versprach lang zu werden.
Seit nun fast einem Vierteljahrhundert war Nowak ergebener Mitarbeiter der RŽD, der staatlichen Russischen Eisenbahngesellschaft, und sorgte als Schaffner aus Leidenschaft für einen reibungslosen Ablauf und das Wohlergehen zahlreicher Reisender zwischen Moskau und Wladiwostok. Auf knappen drei Quadratmetern und zittrigen Beinen schlüpfte er nach den ersten frühmorgendlichen Startschwierigkeiten aus seinem ausgewaschenen Bärchen-Pyjama hinein in seine Schaffner-Uniform, die erst der silberne Stift in seiner Brusttasche vollendete, mit dem er sich anlässlich seines 28. Geburtstags selbst eine Freude bereitete.
Sein morgendlicher Rundgang, der eher als Kontrollgang zu bezeichnen war, da der Zug nun einmal keinen Kreis bildete, folgte einer strengen Routine. Die erste Station war stets der von allen umgarnte Samowar, dem Antoni jeden Morgen aufs Neue erst Leben einhauchen musste. Sobald der regionale Schwarztee – an Stärke kaum von einem schwachen Kaffee zu überbieten – vor sich hinzudampfen begann, kontrollierte Antoni in vorpensionistischer Akribie jedes Zugabteil auf seinem Weg in den Gepäckwagen.
Vereinzelt hatten Reisende schon ihre Sitz- oder Schlafplätze bezogen und ihren Nestbaumodus aktiviert, denn auf einer Reise, die 176 Stunden in Anspruch nehmen würde, war bereits der kleinste Hinweis auf Komfort wie eine sanfte Umarmung einer vermeintlichen Heimat; so wurden Schlafsäcke ausgerollt, Schuhe, Socken und Patschen für ihren Einsatz vor den Betten bereitgestellt, aufgeschobene Lektüre fand unter den Kopfpolstern ihren Platz, vereinzelt sah man sogar das ein oder andere freundliche Gesicht auf einer Fotografie, die an die Wand gepickt wurde. Als alter verkannter Fußballprofi schob Nowak gerade eine rote Reisetasche, die den zusteigenden Passagieren den Weg durch den Waggon versperrt hätte, mit seinem Außenrist in ein Abteil, in dem gerade eine Dame in ihr Handy starrte und, es in die Höhe haltend, vergeblich versuchte, einen Funken Netz zu erhaschen.
»Besser!«, grunzte Nowak selbstzufrieden, doch mehr zu sich selbst als zur abgelenkten Frau, die vorgewarnt, wie eine misstrauische Antilope in der Serengeti, rasch eine aufrechte Haltung annahm und den Schaffner argwöhnisch beäugte.
Bevor Nowak reagieren konnte, sich erklären konnte, spürte er einen Finger, der sich drei Mal im Takt beständig in seinen Rücken bohrte.
Tok! Tok! Tok!
Der Schaffner blickte über seine Schulter. Eine Frau, zorniger Blick, Mitte vierzig, hatte sich unbemerkt hinter ihn gestellt. Dezent verdattert rotierte der Fleischberg und blickte auf eine Person, die zwei Köpfe kleiner war als er.
»Excuse me«, durchdrang das bereits in den frühen Morgenstunden genervte Piepsen die Stille des Zuges, das kurzerhand und ohne auf Reaktion zu warten in für Nowak viel zu schnellem Englisch einfach weiter piepste. Sie musste seinen verwirrten Blick bemerkt haben, jedoch nicht, ohne sich ihren Teil dabei zu denken, denn Antoni war der Sprache der Krone zwar mächtig, verstand in dieser Geschwindigkeit allerdings nur Bahnhof. Wie ein Pantomime legte die Frau ihren Kopf auf die gefalteten Hände und schloss die Augen, fast so, als würde sie schlafen, um sich anschließend mit gekreuzten Armen die Schultern zu reiben, so als würde es sie frösteln. Diese Frau hatte ihre Activity-Hausaufgaben gemacht, dass musste Nowak ihr lassen. »Ah, Sie wollen Schlafsack«, konterte Nowak, denn dies war nicht sein erstes Scharade-Rodeo und setzte einen drauf: »Sleeping« und freute sich noch mehr, da ihm justament auch die englische Übersetzung dazu eingefallen war. Die Frau nickte und zeigte mit dem Finger auf Nowak, »Sleeping, yeah, yeah!«, während sie dem aufgeregten Schaffner in den vorderen Teil des Zugabteils folgte.
Ihr zufriedenes Lächeln hielt sich allerdings nur Momente, denn beim Anblick des von einer Vielzahl an schwarzen Flecken übersäten Bettdecke mit dezent modrigem Geruch, verfinsterte sich ihre Miene. »Bitteschön!«, Nowak überreichte die Notfallschlafsäcke, die eingepackt in einer Schutzfolie im Versorgungskasten des 2. Abteils zusammen mit einer batterielosen Taschenlampe und dem zuletzt 2005 geprüften Erste-Hilfe-Koffer im Sinne der Gemeinschaftlichkeit verstaubten, wie ein Geschenk und freute sich über seine erste gute Tat an diesem Morgen. »Ew!«, lehnte die verwöhnte Britin die gute Gabe des Exil-Polen ab und nahm Abstand vom Schimmel, der in Plastik sein Eigenleben entwickelt hatte. Nowak glaubte zu verstehen und nickte wohlwissend »Ah« und zog einen zweiten Sack aus dem Kasten, diesmal in einer anderen Farbe, »Passt besser. Trendy Farbe. Gut für Fotos!«. Doch ihre Reaktion blieb trotz Nowaks naiver Freundlichkeit unverändert. Da das Problem für den Schaffner gelöst war, drehte er sich zufrieden um und setzte seinen Kontrollgang fort und ließ die Britin mit dem Schlafsack in trendiger Farbe und kleinen Schimmelflecken hie und da verdutzt am Gang stehend zurück.
Im Gepäckwagen, im hinteren Teil der Eisenbahn, angekommen begrüßte der Schaffner Gregori, einen von zwei Mitarbeitern, das mittlere Alter bereits hinter sich gelassen, zuständig für Lagerung und Überwachung der Koffer und Reisetaschen in Übergöße. Er mochte Gregori, auch wenn dieser eher einfach gestrickt war und stets nur Blödsinn im Kopf hatte und in seiner zweiten Woche im Dienste der RŽD auf den glorreichen Gedanken gekommen war, in einer kleinen Nische seines Arbeitsplatzes, versteckt hinter einem selbstgebauten Verschlag aus Koffern, seinen Fang des jeweiligen Vortags zu trocknen und selbstverständlich auch zu räuchern, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Man hatte ihm mit Rausschmiss gedroht, ihn karrieretechnisch aufs Abstellgleis zu stellen, mangels Bewerber:innen drückte die Gesellschaft jedoch ein Auge zu; man hatte ihn, wie man ihm sagte, allerdings auf dem Schirm. Da Nowak festgestellt hatte, dass ihn die Reisenden, die Touristen, seine Gäste genau dann am dringendsten zu brauchen schienen, wenn er gerade in Sicht- oder Hörweite war, zog er sich für gewöhnlich in der Zeit des Boardings eine Weile in den Gepäckwagen zurück, um dem allgemeinen Trubel zu entkommen.
»Alles bereit?«, fragte Nowak mit in Falten gelegter Stirn und sah Gregori an der Verladetür sitzend, seine Beine baumelten nach draußen hängend in der Luft. Seit Jahren an der Seite Nowaks, blieb er ihm eine Antwort schuldig und hielt dem Schaffner ein Zigarettenpäckchen hin; ein Angebot, das Antoni gerne in Anspruch nahm. Hilfsbereit und geschäftig verluden sie die mit Hinkel- und Mühlsteinen beladenen Koffer der Quer-durchs-Land-Reisenden, während sie sich nur in geringem Ausmaß über deren Anordnung im Gepäckwagen uneinig waren. »Tutto kompletny!«, zog Gregori an seinem Zigarettenstummel, nahm einen letzten Zug und dämpfte ihn an der Außenseite der Transsib aus, bevor er die Kippe samt Schachtel in den Mülleimer schmiss, »Das war die letzte Anmeldung für Moskau.« Er deutete in die Richtung des Gepäckstücks, das sie verstaut hatten. Nowak öffnete seine Taschenuhr und nickte: »10 Minuten!«
Auf dem Weg zurück in den vorderen Teil, stellte Nowak aufgeregt fest, dass der Zug zum Leben erwacht war. Familien mit Kindern, Alleinreisende, Touristen, Blogger, Pendler, Junge, Alte, Echte und Unechte, Introvertierte, Extrovertierte, ja sogar ein paar Katzen, oder was da soeben auch immer an seinen Beinen vorbeigehuscht war; alles, im Bereich der möglichen Vorstellungskraft, hatte sich in der Transsibirischen Eisenbahn versammelt und Nowak spürte die positive Aufregung, die für ihn jede neue Fahrt – selbst nach all den Jahren – mit sich brachte.
Mit einem kurzen schrillen Pfiff in sein Pfeiferl setzte der Schaffner alle seine ihm zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung und nur einen kurzen Moment später rollten die Waggons der Transsibirischen aus dem Bahnhof Moskau Kurskij.
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